Teilhabe statt Fürsorge

Bis Ende 2019 war die „terra“ eine stationäre Einrichtung der Eingliederungshilfe. Das hieß für unsere BewohnerInnen: Alle Leistungen (Wohnen, Ernährung, Betreuung etc) waren in einem einzigen Vertrag zu Leistungen der Eingliederungshilfe verwoben, quasi als „all-inclusiv-Angebot rund um die Uhr“. Alles unterlag dem Recht der Sozialhilfe (SGB XII). Die Zahlungen für erbrachte Leistungen gingen direkt an die „terra“. Gleiches galt für die tagesstrukturierenden Maßnahmen in der Tagesförderstätte auf unserer Hofstelle.

Diese Konstruktion gehört nun der Vergangenheit an, weil der Gesetzgeber auch ins Leben von Menschen mit Behinderung ein Großmaß Normalität bringen wollte. Das hat er mit dem BTHG zum 1. Januar 2020 umgesetzt.

Seitdem wird die Eingliederungshilfe rechtlich, fachlich und inhaltlich von der Sozialhilfe getrennt. Die sogenannten Fachleistungen in Betreuung und Assistenz der Eingliederungshilfe befinden sich jetzt in reformierter Form als „Besondere Leistungen zur selbstbestimmten Lebensführung für Menschen mit Behinderungen“ im SGB IX. Nun stehen diese Leistungen jedem Menschen mit Behinderung unabhängig davon zu, in welcher Wohnform und an welchem Wohnort er lebt. Stationär, teilstationär, ambulant? Alles Schnee von gestern! Umfang und Art der Eingliederungshilfe richten sich ausschließlich nur noch nach dem notwendigen persönlichen Bedarf. Dabei ist das Wunsch- und Wahlrecht des behinderten Menschen bei vergleichbaren Kosten zu beachten.

Der persönliche Bedarf gliedert sich aktuell in vier Bereiche: 

  • Leistungen zur sozialen Teilhabe, 
  • Leistungen zur Teilhabe an Bildung, 
  • Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, 
  • Leistungen zur medizinischen Rehabilitation. 

Diese Unterstützung soll Menschen mit Behinderungen eine möglichst volle und wirksame Teilhabe in allen Bereichen für eine selbstbestimmte Lebensführung ermöglichen. Mit den gesetzlichen Veränderungen einher ging auch ein neues Verständnis von Behinderung nach dem sogenannten bio-psycho-sozialen Modell der ICF (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit). Kurz gesagt: Danach liegt eine Behinderung vor, wenn die funktionale Gesundheit beeinträchtigt ist. Normalerweise gewährleistet sie eine uneingeschränkte Teilhabe. Treten jedoch Gesundheitsprobleme eines Menschen in negative Wechselwirkung zu den Gegebenheiten seiner materiellen, sozialen und verhaltensbezogenen Umwelt, so entsteht Behinderung. Das bedeutet: Die Teilhabe ist mindestens eingeschränkt. Leistungen der Eingliederungshilfe sollen das ausgleichen.

Ein Mensch mit Behinderung hat eigene Vorstellungen darüber, ob er z.B. allein oder in Gemeinschaft wohnen möchte. Soweit seine Wünsche angemessen sind, soll die Eingliederungshilfe ihnen entsprechen. Welcher als Träger der Eingliederungshilfe zuständig ist, richtet sich nach dem ursprünglichen Lebensort des jeweiligen Menschen.

Was wiederum die Wohnkosten und die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts betrifft: Diese zahlt das Sozialamt seit Januar 2020 anspruchsberechtigten Menschen mit Behinderung direkt aus. Für diejenigen, die bei der „terra“ in einer „besonderen Wohnform“ leben (so werden jetzt die Wohnbereiche und Zimmer einer vormals stationären Einrichtung genannt), bedeutet das: Die Zahlung fließt nicht mehr vom Sozialamt an die Einrichtung, sondern an die Leistungsberechtigten. Dafür benötigen sie nun ein eigenes Girokonto, von dem sie die Rechnungssummen für Unterkunft, Versorgung und Verpflegung an die „terra“ überweisen oder – damit es für sie einfacher wird – per Lastschrift einziehen lassen.

Die „terra“ hat mit ihren Bewohnerinnen und Bewohnern sämtliche Altverträge fristgerecht zum 1. Januar 2020 neu vereinbart. Diesen Abschlüssen waren intensive Informationsgespräche mit Angehörigen und rechtlichen Betreuerinnen/Betreuern vorausgegangen.


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