Terra-Geschichten, Folge 12: Vom Streben nach Selbständigkeit

Bei der terra schreibt das Leben besondere Geschichten. Darin geht es um Alltagsmomente und Wünsche, um Fähigkeiten, Entwicklungen und Veränderungen, um Einblicke in das Leben Einzelner. Jede dieser Geschichten ist es wert, erzählt zu werden. So wie die von Jochen, dessen Weg mit Unterstützung der terra in eine immer größer werdende Selbständigkeit geführt hat.

Für Menschen ohne Beeinträchtigung verläuft der Lebensweg in eine immer größere Unabhängigkeit oft ganz wie von allein. Im Verlauf ihrer Kindheit lösen sie sich unter der Obhut und Fürsorge ihrer Eltern Schritt für Schritt immer mehr ab, wollen und können in der Jugend Herausforderungen zunehmend allein bewältigen und kommen schließlich in der Welt der Erwachsenen an. Dort erwarten sie Ausbildungs- und später Arbeitsplätze, ein eigener Haushalt, vielleicht irgendwann die Gründung einer Familie. Diese Beschreibung mag ein bisschen bilderbuchartig wirken, trifft im Prinzip aber den Kern.

Für Menschen mit Beeinträchtigung ist der Weg in die Selbständigkeit schwieriger und sehr viel häufiger von spezifischer Unterstützung begleitet. Umso mehr verdienen ihre Anstrengungen im Streben nach größtmöglicher Unabhängigkeit, nach einer eigenen Wohnung, nach einer zufriedenstellenden Arbeit, nach Teilhabe und einem selbstbestimmten Leben, unsere Achtung und unseren Respekt.

In diesem Sinne gebührt auch Jochen unsere Anerkennung. Der ursprüngliche Berliner ist jetzt seit genau 40 Jahren mit der terra verbandelt und erzählt hier seine Geschichte:

Ich kam 1983 als junger Erwachsener zur terra auf den Hof nach Belau, wo ich erstmal auch wohnte. Später konnte ich dann in eine Wohngemeinschaft der Außengruppe der terra in Bergen umziehen. Dort habe ich selbstständiger gelebt. Trotzdem zog es mich zurück nach Berlin, wo ich dann einige Zeit blieb. Dort habe ich aber gemerkt, dass ich doch lieber bei der terra wohnen möchte. Ich bin dann in meine eigene Wohnung in Belau gezogen und werde seitdem vom Ambulant Betreuten Wohnen (ABW) der terra unterstützt.

In diesen ganzen Jahren konnte ich alle Arbeitsbereiche bei der terra ausprobieren. Zuletzt habe ich sehr gern im Team Brennholz gearbeitet. Leider hat mir dann aber mein Rücken immer mehr Probleme gemacht. Da habe ich beschlossen, in Rente zu gehen. Seitdem bin ich für alles rund um meine Wohnung, mein Leben und mein Wohlbefinden selbst zuständig. Das klappt bei mir mal mehr und mal weniger gut – aber mit der Unterstützung der terra klappt es richtig gut!

Ich erhalte vom Ambulant Betreuten Wohnen einfache und auch qualifizierte Assistenz.

Für die einfache Assistenz kommt Tina. Sie begleitet mich zum Beispiel, wenn ich Geld bei der Sparkasse abheben oder Einkäufe erledigen muss. Dazu brauche ich nämlich Hilfe beim Lesen und auch beim Geld abzählen.

Außerdem hilft mir Tina in Haushaltsdingen. Mir fällt es nämlich manchmal schwer, allein einen Anfang zu finden und die Dinge auch in Ordnung zu halten. Deshalb möchte ich gerne eine Grundordnung in die Küche bringen, damit ich sie jederzeit nutzen kann. Tina unterstützt mich dabei. Wir haben uns eine Küchenroutine ausgedacht und bringen die Küche jede Woche in Ordnung. Tina hilft mir auch, die Sachen in meinem Haushalt zu sortieren und mich von Kram zu trennen, der unbrauchbar ist. Den entsorgen wir dann regelmäßig z.B. auf der Mülldeponie.

Manchmal fahre ich mit Tina auch in den Baumarkt. Dort schaue ich mich dann einfach um, was es so Neues gibt und was ich für meine kleine Werkstatt gebrauchen kann. Technik ist eine tolle Sache, finde ich! Am meisten interessiere ich mich für Stromgewinnung durch Sonnenkollektoren und ein Windrad, das ich mir angeschafft habe. So kann ich angelieferten Strom sparen, weil ich meinen eigenen nutze. Ich habe auch tolle Hobbies, mit denen ich meine Freizeit gern verbringe. Zum Beispiel das Wetter und verschiedene Phänomene. Schon seit langem beobachte ich das Wetter rund um Belau ganz genau.

Für alles, das ich trainieren und erlernen möchte, bekomme ich qualifizierte Assistenz von Michaela. Zum Beispiel kochen wir oft zusammen. Dabei lerne ich ziemlich viel über gesunde Ernährung und kann auch immer mehr Rezepte sammeln. Mit Michaela bespreche und übe ich auch einzelne Schritte und Routinen in der Küche ein.

Sie begleitet mich auch zum Arzt oder Facharzt. Vorher reden wir über meine Bedenken und Ängste und auch darüber, warum bestimmte Untersuchungen nötig sind. Außerdem machen wir immer eine Liste mit Fragen an den Arzt, damit ich nichts vergesse. Und auch beim Gespräch mit dem Arzt unterstützt mir Michaela. Anschließend sprechen wir dann nochmal durch, was der Arzt gesagt hat, damit ich alles gut verstehe und seine Anweisungen umsetzen kann.

Ich finde auch gut, dass ich mit Michaela einfach durch die schöne Natur spazieren kann. Das machen wir oft. Meistens reden wir dabei über ziemlich wichtige Sachen. Zum Beispiel bereiten wir dann in Gedanken Aufgaben vor, die ich später mit Tina erledigen will. Dadurch bin ich viel tatkräftiger! Überhaupt kann ich mit Michaela über alles reden, was mich belastet oder mir so im Kopf rumgeht. Allein schon darüber sprechen hilft mir. Da müssen wir gar nicht immer zusammen noch extra Lösungen finden, weil die dann manchmal auch ganz von allein kommen.

Übrigens: Michaela hat mir auch geholfen, dass ich hier meine Geschichte erzählen kann. Darüber habe ich mich sehr gefreut!


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