Nachtwachen bei der terra: Gutes Gespür für Situationen und Menschen

Vor einiger Zeit hatte die terra eine Nachtwache für ihren Wohnbereich gesucht. So schnell das Stellenangebot auf dieser Homepage eingestellt war, so rasch war es auch wieder verschwunden. Denn es hatte sich bald eine passende Mitarbeiterin gefunden. Das weckt Neugier: Wer sind die Menschen, die nachts über das Wohl der terra-Bewohner*innen wachen? Und vor welchen Herausforderungen stehen sie manchmal?

„Man sieht die im Lichte…“

Die terra hat viele Mitarbeitende. Sie arbeiten im Früh- oder Spätdienst und sorgen im Wohnbereich wie in der Tagesförderstätte mit ihrer Fachlichkeit, Kompetenz und Empathie für die persönliche Weiterentwicklung der Bewohner*innen und Nutzer*innen. Besucht man den Hof der terra in Belau bei Tage, so wird man dort eine Menge geschäftiger Menschen antreffen. Die vier verschiedenen Teams der Tagesförderstätte gehen mit ihren jeweiligen Anleiter*innen ihren Tätigkeiten nach. Sie machen Brennholz oder wirken in der Hauswirtschaft, sie arbeiten in der Landwirtschaft und im Nutzgarten, versorgen die Tiere oder beschäftigen sich im Werkraum. Auch die Verwaltungskräfte der terra haben immer viel zu tun, ebenso die Bereichsleitungen sowie Geschäftsführer Henrik Thunecke.

„…die im Dunkeln sieht man nicht“

Sie alle sind die „Tagmenschen“ bei der terra. Wenn sich dann aber die Nacht über Belau senkt, kehrt Ruhe ein. Die Mitarbeitenden und Nutzer*innen sind in ihren jeweiligen Feierabend verschwunden. Auch die Bewohner*innen der terra halten sich jetzt in ihren Wohngruppen auf. Wenn sich diese Abendstille über das Anwesen legt, schlägt die Stunde der Nachtwache. Frei nach Bertolt Brecht in seiner „Dreigroschenoper“ könnte man also sagen: Die einen sind im Dunkeln und die anderem im Licht. Und man sieht die im Lichte – die im Dunkeln sieht man nicht.

Deshalb wollen wir die so wichtigen nächtlichen Mitarbeiter*innen der terra am Beispiel von Ulrike V. hier mal ins helle Licht rücken und ihnen etwas von ihrer Unsichtbarkeit nehmen.  

Gegen 21.50 Uhr radelt Ulrike V. auf den Hof der terra. Hinter der 59-Jährigen liegen rund 14 Kilometer Radweg von ihrem Heimatdorf nach Belau. Sie fährt diese Strecke am liebsten mit dem Fahrrad – „das macht den Kopf so schön frei, besonders am Morgen nach dem Dienst!“ Jetzt aber schiebt die staatlich geprüfte Ergotherapeutin ihr Fahrrad über das Kopfsteinpflaster, schließt es an und betritt den Mitarbeiterraum im Haupthaus der terra. Die Bewohner*innen wissen, dass die Nachtwachen im Moment von hier aus arbeiten. Zu anderen Zeiten, wenn jemand besonders pflegebedürftig ist oder gar im Sterben liegt, ist das „Neue Haus“ der Ausgangspunkt.

Tagesverläufe haben Einfluss auf die Nachtruhe

Im Mitarbeiterraum wartet schon der Spätdienst dieses Tages auf die Übergabe an Ulrike V. Was gab es heute Besonderes? Was muss die Nachtwache für die kommenden acht Stunden wissen, worauf sollte sie achten, auf wen ein besonderes Auge werfen? Jeder kennt das doch von sich selbst: Der Tagesverlauf beeinflusst die Nachtruhe immer mit. Ein besonderes Ereignis am Vormittag, ein Streit am Nachmittag, ein Schnupfen oder anderes Unwohlsein und manchmal auch nur ein kräftiges Gläschen zuviel am Abend – und schon können wir schlechter einschlafen, wachen nachts von bösen Träumen auf, sind unruhiger oder müssen uns nochmal jemandem anvertrauen. Das geht Menschen mit geistiger Beeinträchtigung kein bisschen anders.

Um 22.15 Uhr hat sich der Spätdienst in den Feierabend verabschiedet. Jetzt ist Ulrike V. allein mit sich, der Nacht und gut 30 Bewohner*innen auf dem Hof der terra, verteilt auf vier Häuser. Und noch dazu die Außenwohngruppe in Bergen/Dumme, für die sie ebenfalls zuständig ist, zumindest übers Telefon. Aber von dort wird sie zum Glück nur sehr selten gebraucht.

„Das kann für mich auch schnell mal sehr unlustig werden“

„Alle sollen gut durch die Nacht kommen und zufrieden sein“, wünscht sich Ulrike V. Diesem Mantra folgt jede Nachtwache bei der terra, aber ausbuchstabiert auf die einzelnen Bewohner*innen bedeutet es immer etwas anderes. „Zum Beispiel überfällt plötzlich jemanden nachts noch ein kleiner Hunger, dann inspizieren wir zusammen den Kühlschrank. Oder jemand möchte sich noch was von der Seele reden. Manch einer vergisst auch einfach, sich ins Bett zu legen“, erzählt sie. Sowas fällt einer Nachtwache natürlich auf, wenn sie alle ein bis zwei Stunden ihre Runden durch die Wohnbereiche dreht.

Auch wenn ein paar junge Bewohner*innen noch bis spät in die Nacht an der Spielekonsole zocken oder mal viel zu tief ins Glas geschaut haben, ist Frau V. ganze Diplomatie und Kommunikationskunst gefragt. „Gerade Alkoholkonsum führt bei unseren Bewohner*innen oft zur Selbstüberschätzung –  und kann von ihrem Verhalten her für mich auch schnell mal unlustig werden“, ist ihre Erfahrung. Spricht sie in solchen Fällen ein Machtwort? „Na ja, einerseits will ich ja keine Spaßbremse sein, andererseits habe ich aber auch eine pädagogische Verantwortung. Das ist schon ein Spagat. Ein Machtwort geht natürlich nicht, aber ich gebe dann schon einen eindringlichen, wenn auch gut gemeinten Rat“, schmunzelt die 59-Jährige. Mut hat sie ja!

Natürlich wäre es in manchen Situationen angenehmer, sich mit einer Kollegin oder einem Kollegen direkt vor Ort besprechen zu können. Gerade wenn eine Bewohnerin oder ein Bewohner in eine Krise gerät. „Darauf muss man jederzeit gefasst sein“, weiß Ulrike V. nach über sechs Jahren Nachtdienst bei der terra. Eine Bewohnerin zum Beispiel braucht stets akribische Ordnung um sich herum. Ist irgendwas anders, kann sie schon mal ausrasten und laut schreiend über den Hof rennen. Dann muss sie von der Nachtwache ´eingefangen` und beruhigt werden. Aber Ulrike V. ist sehr krisenerprobt und bleibt auch in brenzligen Situationen ruhig. „Es hilft natürlich, wenn man die Bewohner*innen mit all ihren Eigenheiten schon gut kennt“, sagt sie. Deshalb erleben neue Nachtwachen in ihrer Einarbeitungszeit die Bewohner*innen zunächst auch am Tag mit. Ansonsten helfen generell Erfahrungen im Umgang mit geistig bzw. seelisch beeinträchtigten Menschen. Ulrike V. zum Beispiel war vor ihrer Anstellung bei der terra u.a. über 10 Jahre in einer psychiatrischen Einrichtung tätig gewesen.

„Unsere Nachtwachen müssen aber nicht unbedingt Fachkräfte sein, das ist mit der Heimaufsicht so abgesprochen“, stellt terra-Geschäftsführer Henrik Thunecke klar. Zudem ist er nachts immer in telefonischer Rufbereitschaft, kann jederzeit angerufen werden und wäre in knapp 30 Minuten auch vor Ort. „Dieser Fall tritt bei unseren Nachtwachen dank der Schulungen, Fortbildungen, einer guten Einarbeitung sowie unserer vierteljährlichen Treffen aber nur sehr selten ein“, so Thunecke.

Einschätzen, was jeweils gutes Handeln ist

Es geht auf 3.30 Uhr. Ulrike V. hat gerade wieder einen ihrer Rundgänge beendet. Jetzt sitzt sie im Mitarbeiterraum im Haupthaus und kümmert sich um die Dokumentation. Die Wäsche hat sie heute Nacht bereits erledigt, weil auch die Pflege der Wäsche von Bewohner*innen, die dieses nicht selbst erledigen können, zu den Aufgaben einer Nachtwache bei der terra gehört. Währenddessen steckt ein Bewohner seinen Kopf zur Tür hinein, druckst ein bisschen, berichtet Frau V. dann von vagen Schmerzen irgendwo im Kopf, im Hals, im Bauch, irgendwie überall. Das sind so Situation, in denen eine Nachtwache ganz auf ihre eigene Einschätzung gestellt ist. Reicht eine Wärmflasche, ein Tee, liebevoller Zuspruch und Verständnis? Oder besser eine Schmerztablette geben? Oder vielleicht doch nur ein Scheinmedikament? Abwägen, wie ernst es ist, entscheiden, was getan werden muss, darum geht es in solchen Fällen. In anderen muss manchmal auch ein Arzt oder Krankenwagen gerufen werden, aber nicht heute.

Auch dieses Ereignis notiert Ulrike V. in der Dokumentation. Bei der Übergabe an die Tageskollegin vom Frühdienst wird sie darauf noch einmal gesondert hinweisen, damit der Bewohner bzw. seine körperliche Verfassung im Auge behalten werden kann. „Nachtdienste haben ihre Vor- und Nachteile“, sagt sie dann kurz vor Feierabend. „Einerseits sind sie abwechslungsreich, und man entgeht auch den üblichen Konflikten der Tagesdienste. Außerdem kann man sich oft auch selbstwirksam erleben. Zudem schätze ich, dass ich durch das Blocken meiner 20 Wochenstunden jeden Monat mindestens eine ganze Woche am Stück frei habe. Andererseits hält der Nachtdienst auch so manche Herausforderung bereit, gerade wenn man allein ist und Krisen meistern muss. Da brauchst du immer ein gutes Gespür für die Menschen, die jeweilige Situation und die richtige Entscheidung.“

Um 5.30 Uhr weckt Ulrike V. jene Bewohner*innen, die nicht in der Tagesförderstätte der terra arbeiten, sondern in ihre entsprechenden Werkstätten nach Dannenberg oder Salzwedel fahren müssen. Dann neigt sich an diesem Mittwoch für die Nachtwache der Dienst seinem Ende entgegen. Sie hat noch einige Reinigungsarbeiten erledigt und das Frühstück für die Bewohner*innen vorbereitet. Nach der Übergabe an den Frühdienst schwingt sich Ulrike V. dann kurz nach 6 Uhr auf ihr Fahrrad, um zurück in ihr Dörfchen zu radeln, wo sie mit ihrem Lebensgefährten wohnt. Heute früh steigt hauchzarter Nebel aus den Feldern auf, während Star und Nachtigall ihr Lied in der Morgenstimmung singen. „Herrlich“ findet Frau V. solche Momente und tritt beherzt in die Pedale.


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