Die terra geht jetzt ins 44 Jahr ihres Bestehens. Mit ihr sind 1979/1980 junge Erwachsene mit geistiger Behinderung auf den Hof nach Belau ins Wendland gezogen. Eine ganze Reihe dieser Bewohner*innen der ersten Stunde leben noch heute dort – und sind mittlerweile „in die Jahre gekommen“. Wie wird sich ihr Alter bei der terra gestalten? Darüber hat Swaantje Düsenberg mit Einrichtungsleiter Henrik Thunecke gesprochen.
Herr Thunecke, bei der TERRA leben 30 Frauen und Männer in besonderer Wohnform. Wie sieht die Altersstruktur Ihrer Bewohnerschaft aus – und wieviele haben ihren 60. Geburtstag schon hinter sich?
THUNECKE: Das kann ich Ihnen genau sagen. Sieben Bewohner*innen – also ein gutes Viertel – sind 60 Jahre und älter. Hinzu kommen vier Bewohner*innen zwischen 50 und 60 Jahren. Die sogenannte Generation der „Baby-Boomer“ macht bei uns mit 11 Personen also derzeit ein knappes Drittel der Bewohnerschaft aus.
Und wie schaut es mit den nachrückenden Generationen bei Ihnen aus?
THUNECKE: Da haben wir in der letzten Zeit so einige junge und jüngere Leute aufgenommen. Entsprechend sind sieben Bewohner*innen bei uns Twens, also in ihren 20er Jahren. Die restlichen 12 Bewohner*innen sind zwischen 30 und 50 Jahre alt.
Das klingt altersmäßig nach einer guten Mischung. Schauen wir jetzt mal zu den Seniorinnen und Senioren. Wie geht es denen eigentlich?
THUNECKE: Ach, das ist individuell verschieden und ändert sich auch immer wieder. Im Moment sind einige körperlich und auch geistig noch ganz fit und mobil, andere kämpfen mit verschiedenen Erkrankungen oder nachlassenden Alltagskompetenzen. Aber das sind alles nur Momentaufnahmen, und es kann morgen auch schon wieder anders aussehen. Einer unserer älteren Bewohner, der Manfred, hat sich sogar entschlossen, seinen Lebensabend nicht bei der terra, sondern in einem neuen Zuhause in Frankfurt/Oder zu verbringen. Er möchte noch einmal einen Orts- und Tapetenwechsel erleben, solange er gut bei Kräften ist. Ich finde das toll und unterstütze ihn dabei natürlich. Voraussichtlich im späten Frühjahr will er dann umziehen.
Sie erwähnten, dass andere Bewohner*innen nicht so gut dran sind.
THUNECKE: Ja, das trifft tatsächlich auf einige zu. Es ist aber nicht ungewöhnlich, dass Menschen mit geistiger Behinderung früher als andere auf intensivere Pflege angewiesen sind. Das ist jenseits des 60. Geburtstages gar nicht selten.
Was bedeutet das, wenn sie bei der terra leben? Müssen sie dann in ein Pflegeheim umziehen?
THUNECKE: Das versuchen wir natürlich zu vermeiden. Deshalb haben wir in unserem sogenannten „Neuen Haus“, das Teil unserer Hofstelle ist, eigens eine alten- und behindertengerechte Wohngruppe mit sieben Plätzen in barrierefreiem Wohnraum geschaffen. Dort werden unsere betroffenen Bewohner*innen von unseren eigenen Teams versorgt.
Wie muss man sich das vorstellen? Viele Mitarbeitende der terra sind ja keine Pflegekräfte, sondern haben eine pädagogische Ausbildung.
THUNECKE: Das stimmt. Es ist uns aber trotzdem gelungen, ein entsprechendes Team für diese Wohngruppe zusammenzustellen. Alle, die dort regelmäßig tätig sind, haben sich freiwillig für genau diesen Arbeitsbereich entschieden. Für die betroffenen Bewohner*innen ist das eine gute Sache, denn je stärker jemand auf Pflege angewiesen ist, desto wichtiger wird auch eine gelingende Beziehung zum Pflegenden.
Was bedeutet Pflege bei der terra?
THUNECKE: Es bedeutet, dass wir – und nicht ein externer Pflegedienst – auch die Grundpflege der Bewohner*innen übernehmen. Dafür haben wir das Team eigens geschult. Diese Vorbereitung ist bei aller Motivation der Beteiligten enorm wichtig: Wie kann ich jemanden versorgen, ohne dass ich Rückenprobleme bekomme? Wie bewältige ich den Nachtdienst alleine? Wie kann ich durch Demenz verursachte Veränderungen von der geistigen Behinderung abgrenzen?
Aber das Team wird doch sicher regelmäßig von externen ambulanten Pflegediensten unterstützt, oder?
THUNECKE: Gar nicht so häufig, wie Sie denken. Im Gegenteil, ein ambulanter Pflegedienst ist im Neuen Haus eher selten anzutreffen. Natürlich – wenn Spritzen verabreicht oder bestimmte Wunden versorgt werden müssen, dann selbstverständlich schon. Das gehört zur sogenannten Behandlungspflege, und die dürfen wir gar nicht ausführen. Aber die Grundpflege erfolgt bei uns in Eigenregie.
Für die Bewohner*innen dieser Wohngruppe spielt sich das Leben also nur im Neuen Haus ab?
THUNECKE: Aber nein – sie sind genau wie unsere anderen Bewohner*innen ins Leben auf unserem Haupthof voll integriert. So nutzen sie z.B. wie alle anderen auch unsere Tagesförderstätte. Dazu gehören verschiedene Beschäftigungsangebote und werktags auch das gemeinsame Frühstück und Mittagessen. Es ist doch wichtig, jeden Tag mit den anderen, oft langjährig vertrauten Menschen zusammenzutreffen! Oder sich mit jemandem zu einem Spaziergang zu verabreden. Oder einfach nur für einen Plausch gemeinsam unter unserem Walnussbaum zu sitzen und der Katze zuzuschauen, wie sie sich in der Sonne räkelt. Ob alt oder jung, ob mit oder ohne Pflegebedarf – in Beziehung zu bleiben, Respekt zu erfahren, sich zu bestätigen in der Gemeinschaft, das ist doch für jeden bedeutsam. Außerdem sind wir eine offene Einrichtung. Also entscheiden auch unsere alten und pflegebedürftigen Menschen selbst, was sie tun möchten – und sei es mit unserer Unterstützung.
Und was geschieht, wenn jemand aufgrund seiner Pflegebedürftigkeit immobil wird, also gar nicht mehr aus dem Bett herauskommt?
THUNECKE: Eine schwierige Frage. Denn das hieße ja, dass der oder die Betroffene im eigenen Zimmer fast ständig allein wäre. Er könnte an nichts mehr teilnehmen und müsste auch ständig umgelagert werden, damit keine Druckgeschwüre entstehen. Für eine solch intensive Pflege sowie ganz viel Anwesenheit haben wir jedoch nicht die personellen Ressourcen. Gleiches gilt, wenn jemand z.B. chronisch Sauerstoff benötigen würde oder regelmäßig durch Absaugen von Schleim befreit werden müsste. Dann stoßen auch wir an unsere Grenzen. Eine vorrübergehende Episode mit Aussicht auf Besserung ist noch handhabbar, aber ein immobiler Dauerzustand nicht. Er würde dann letztlich zu einem Umzug in ein Pflegeheim führen.
Wäre das auch der Fall, wenn der betroffene Mensch in die Sterbephase eingetreten ist?
THUNECKE: Dann sollte er nach Möglichkeit zu Hause bei der terra seinen letzten Atemzug tun können. Wir würden ihn im Sterbeprozess also begleiten und alles dransetzen, dass er nicht noch in ein Heim oder ins Krankenhaus kommt. Dabei haben wir auch sehr gute Erfahrungen mit dem ambulanten Palliativdienst Lüchow-Dannenberg gemacht. Die Spezialisierte Ambulante Palliativmedizinische Versorgung (SAPV) begleitet schwerkranke Menschen, die keine Aussicht auf Heilung haben, zu Hause bis zum Lebensende. Meistens aufgrund fortgeschrittener Stadien von Krebserkrankungen, es kann sich aber auch um Erkrankungen des Herzkreislaufsystems mit komplexer Symptomatik handeln oder um fortgeschrittene neurologische Erkrankungen. Die ausgebildeten Fachkräfte der SAPV lindern Krankheitssymptome und unterstützen pflegende Angehörigen – was in unserem Fall dann unser Team ist. Der Palliativdienst hat unsere Mitarbeitenden auch für die Aufgabe der Sterbebegleitung schon geschult. Das ist wirklich eine fantastische Kooperation, genau wie mit einigen Hausärzte. So können wir mit vereinten Kräften in den meisten Fällen einen ruhigen Sterbeprozess in vertrauter Umgebung ermöglichen. Und das entspricht auch dem Wunsch fast aller Menschen.
Die Sterbebegleitung sprengt also nicht die Grenzen der terra?
THUNECKE: Doch, manchmal schon. Wenn ein Mensch in seiner allerletzten Lebensphase z.B. hochgradig unruhig ist oder mit Schmerzen oder Angst überhaupt nicht zurechtkommt oder starke Verhaltensauffälligkeiten aufweist, dann kann das auch die Möglichkeiten der terra übersteigen. Zudem müssen wir nicht nur den Sterbenden im Blick behalten, sondern immer auch die Frage, wie es den Mitbewohner*innen und unseren Mitarbeitenden geht und was sie bewältigen können – und was nicht. In diesem Sinne gibt es also keine Garantie, bis zum letzten Atemzug zu Hause bleiben zu können.
Beziehen Sie eigentlich in die Begleitung und Versorgung der alten und pflegebedürftigen Bewohner*innen auch deren Angehörige mit ein?
THUNECKE: Sofern das gewünscht ist und auch die Angehörigen das wollen, tun wir das selbstverständlich. Viele Bewohner*innen haben aber keinen Kontakt mehr zu ihren Familien – oder es gibt einfach keine Angehörigen mehr. Dann ist die terra ihre Familie.
Darüber wird ja selten gern gesprochen – aber was geschieht eigentlich nach dem Tod einer Bewohnerin oder eines Bewohners?
THUNECKE: Ich finde es auch wichtig, darüber zu sprechen.Nun, sobald jemand bei uns verstorben ist, hat der rechtliche Betreuer keinerlei Befugnisse mehr. Wenn dann keine Angehörigen vorhanden sind, geht der „Fall“ sofort ans Sozialamt. Das würde dann auch für die Bestattung zuständig sein. In der Praxis wird die Beerdigung in solchen Fällen aber meist von uns organisiert. Ehrenamtlich, sozusagen als terra-Familie.
Viel einfacher ist es für alle, wenn der oder die Betroffene schon zu Lebzeiten einen Bestattungsvertrag mit einem Beerdigungsunternehmen abgeschlossen hat. Das empfehlen wir eigentlich immer, weil dieser Vertrag erfüllt werden muss und auch das Sozialamt dann nichts anderes verfügen kann. Herr Thunecke, vielen Dank für das Gespräch und Ihre Offenheit!