Nachgefragt: Sind Krisen auch bei der terra ein Thema?

Krisen entstehen bei Verlust des inneren Gleichgewichts. Ausgelöst werden können sie durch Konfrontation mit Ereignissen oder Lebensumständen, die mit den verfügbaren Ressourcen erstmal nicht zu bewältigen sind. In diesem Sinne führen Krisen manchmal global, manchmal national und zuweilen auch bei einzelnen Personen(gruppen) ihr Eigenleben. Das kann irgendwo sein – oder auch bei Bewohner*innen und Nutzer*innen der terra.

Die Ergebnisse der Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen sind erst wenige Stunden alt, haben aber schon jetzt die politische Tektur verschoben: Die rechtsextreme AfD ist in Thüringen mit Abstand stärkste und in Sachsen dichtauf zweitstärkste Kraft geworden – mit jeweils über 30 % der abgegebenen Stimmen. Dieser erschreckende Erdrutsch wird später möglicherweise mal in den Geschichtsbüchern stehen. Er versetzt aber derzeit alle Demokrat*innen in Deutschland in angespannte Sorge. Noch zeichnet sich nicht ab, wie in Thüringen und Sachsen überhaupt stabile demokratische Koalitionen geschmiedet werden können.

Es hatte sich nach der Europawahl sowie nach Wahlen in europäischen Nachbarländern schon abgezeichnet: Zu allen Krisen – u.a. dem Klimawandel mit weltweit katastrophalen Auswirkungen, dem entsetzlichen Überfalls Putins auf die Ukraine, der damit einhergehenden latenten atomaren Bedrohung, dem Krieg in Nahost, den Millionen Menschen auf der Flucht – hat sich noch ein heftiger Rechtsruck gesellt, nun auch in Deutschland.

Krisenentwicklung im Aufwind?

Ob er unser Land in eine Krise werfen wird, bleibt abzuwarten. Für Henrik Thunecke, Geschäftsführer der terra, steht jedoch fest, dass auch der Rechtsruck, zusammen mit den weiteren Krisen, die uns umzingeln, zur neuen Unruhe unter den Bewohner*innen und Nutzer*innen der terra beiträgt. „In diesem Sinne sind auch wir ein Spiegelbild der Gesellschaft“, sagt er. Auch bei den Menschen, die der terra anvertraut sind, gäbe es mit Blick auf Krisenentwicklungen eine Art Wellenbewegung, ein ständiges Auf und Ab. „Und derzeit haben Krisen auch unter unseren Bewohner*innen und Nutzer*innen eher Aufwind“.

Thunecke registriert diese Zunahme schon etwas länger, „die Häufigkeit von auffälligem Verhalten bis hin zur persönlichen Krise hat bei uns eindeutig zugenommen“. Unterscheidet sich das von Menschen ohne geistige Behinderung? „Wohl nicht“, sagt der Geschäftsführer. „Allerdings ist die Bandbreite der überbordenden Reaktionen auf eine empfundene Krise sicher größer und individueller, je nach Art und Grad der Behinderung. Da kann dann jemand schon mal aggressiv werden oder schreiend über den Hof laufen vor Liebeskummer, z.B. wenn der Partner oder die Partnerin die Beziehung beendet hat. Geistig beeinträchtigte Menschen fühlen sich schnell überrollt von ihren Gefühlen. Sind ihre Selbstregulierungskräfte am Ende, brauchen sie aber auf jeden Fall zu hundert Prozent mehr Unterstützung als nicht beeinträchtigte Menschen.“ 

Das betrifft insbesondere jene Bewohner*innen und Nutzer*innen, die zu ihrer Behinderung auch noch eine Persönlichkeitsstörung aufweisen. Laut Henrik Thunecke nehmen diese Doppeldiagnosen zu – und damit auch herausforderndes Verhalten, mit dem die Mitarbeitenden immer häufiger konfrontiert sind. „Denn aus dieser Kombination erwächst eine besondere Störanfälligkeit.“ Hinzu würden weitere Faktoren treten. Zum Beispiel die Fülle optischer, akustischer, taktiler oder medialer Reize in unserer heutigen Welt, was schnell zu einer Überflutung werden kann. Thunecke erinnert sich da etwa an einen länger zurückliegenden Ausflug mit Bewohner*innen und Nutzer*innen ins Miniatur Wunderland nach Hamburg. „In diesen Modellbauwelten sind knapp 500.000 Lämpchen verbaut, überall blinkte und tutete es. Für einige unserer Menschen waren das zu viele und zu verdichtete Eindrücke. Das ist in der realen Welt manchmal nicht anders.“

Die Rolle der Medien

Auch der Pluralismus in der Gesellschaft bezüglich Normen und Werte mache vielen Bewohnern zu schaffen und hinterlasse bei ihnen, ähnlich wie fast überall in Deutschland, eine gewisse Rat- und Orientierungslosigkeit. „Was geht und was nicht geht, lernen Kinder zunächst in ihren Familien. Aber das Gelernte finden sie dann, wenn sie älter sind, nicht unbedingt in der Gesellschaft wieder. Im Gegenteil – sie scheint aus den Fugen geraten zu sein“, so Thunecke. Die gesellschaftlichen Veränderungen würden sich im Verhalten der terra-Bewohner*innen widerspiegeln. Erschwerend hinzu kämen für viele von ihnen noch biografische Brüche, etwa der Wechsel von Lebensmittelpunkten bis hin zur Heimunterbringung. „Dafür haben die Betroffenen kaum Bewältigungsstrategien.“

Für einen wesentlichen Faktor hält der Geschäftsführer auch die Medien. „In den sozialen Medien bewegt sich heute doch jeder in seiner ´Babbel`, da kann man Panikmache, Hetze Skandalisierung oder fake news kaum entkommen. Und außerdem sind da noch die Bilder, auch vermittelt durch das Fernsehen, das bei vielen unserer Menschen manchmal dauernd läuft. Für einige sind die Bilder die hauptsächliche Infoquelle, egal ob es um Gewalt, Krieg oder Produktwerbung geht. Diese Bilder haben eine enorme Macht. Sie kriechen unseren Leuten unter die Haut, und dann ist die Sache abgespeichert im Gehirn. Das kann auch verstörend sein oder aggressiv machen.“

Körperliche Gewalt sei zwar seltener anzutreffen, verbale Gewalt gegen andere Bewohner*innen oder Mitarbeitender dafür immer häufiger. „Schreien, brüllen, beleidigen, diffamieren, mobben, Grenzen verletzen, die ganze Palette, teilweise sogar über die sozialen Medien per voice-Nachricht“, so Thunecke.

Unterstützung trotz knappem Personalschlüssel

Wie gehen die terra-Mitarbeitenden mit solchen Krisensituationen um? In jedem Fall nicht holzschnittartig, sondern immer situativ und auf die jeweilige Person abgestimmt. Denn was dem einen bei Wut hilft, beruhigt den anderen noch lange nicht. Und was bei einem am Mittwoch funktioniert hat, muss nicht auch am Freitag bei ihm klappen. Da ist chronisch der individuelle Blick gefragt. Das allerdings bei bekannt knappem Personalschlüssel. „Der ist seit 2012 nicht angepasst worden“, kritisiert Henrik Thunecke zu Recht. Seine Hoffnung ruht nun auf dem Paritätischen, der derzeit darüber verhandelt. „Ziel muss es sein, die veränderte Betreuungsintensivität im Rahmenvertrag aufzunehmen, dann hätten wir wenigstens konkrete Verhandlungsmöglichkeiten.“

Jenseits davon nutzt die terra aber schon jetzt alle ihr zur Verfügung stehenden Instrumente, um Bewohner*innen und Nutzer*innen in Krisensituationen die bestmögliche Unterstützung geben zu können. „Wir ziehen zum Beispiel immer öfter externe Fachberatung hinzu“, berichtet der Geschäftsführer. „Wir tauschen uns auch mit den anderen Einrichtungen aus, in denen Bewohner*innen von uns beispielsweise arbeiten. Wir organisieren Fortbildung für unsere Mitarbeitenden, halten regelmäßig Teambesprechungen für jede Gruppe aus den Wohnbereichen und der Tagesförderstätte ab und beachten diese Themen auch bei den Übergaben der Tag-, Spät- und Nachtdienste.“ Wichtig sei vor allem, aufkeimende Krisen erst gar nicht eskalieren zu lassen und mögliche Krisen schon prophylaktisch zu vermeiden. „Aber das bedeutet stets, sich mehr Zeit für die Bewohner*innen und Nutzer*innen zu nehmen – was unser Stellenschlüssel jedoch nicht immer zulässt“, schließt Henrik Thunecke das Gespräch. Auf jeden Fall will er dafür sorgen, dass auch das Altersgefüge bei der terra bleibt, das Zusammenleben von Menschen in jungem, mittlerem und fortgeschrittenem Alter. „Denn auch diese Struktur trägt dazu bei, dass Krisen bei uns nicht andauernd auf der Tagesordnung stehen. Zumal gerade die Älteren schon vielfältige Erfahrungen mit Krisen gemacht. Von diesen Erfahrungen können die Jüngeren profitieren.“


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