Henrik Thunecke: „Der Boden ist bereitet“

Es ist vollbracht: Die terra hat einen neuen Geschäftsführer. Dass Henrik Thunecke die Nachfolge von Georg Nicolay angetreten hat, wurde bereits am 16. Mai 2023 notariell besiegelt. Nun ist der 54-Jährige schon rund vier Wochen im Amt, also Grund genug, ihn hier vorzustellen. Swaantje Düsenberg hat mit Henrik Thunecke gesprochen.

Herr Thunecke, eigentlich müssten Sie gar nicht mehr vorgestellt werden, denn Sie sind den Bewohner*innen, Nutzer*innen, Mitarbeitenden, Fachstellen und Förderern der terra ja seit Jahren bekannt.

Thunecke: Das stimmt. Als Einrichtungsleiter bin ich bereits seit 2017 bei der terra tätig. Viele haben mich also schon in dem einen oder anderen Zusammenhang erlebt.

Und nun der Sprung in die Geschäftsführung. Wer übernimmt denn jetzt die Einrichtungsleitung?

Thunecke: Die bleibt weiterhin bei mir ­– was nur dank unserer guten Bereichsleitungen funktionieren kann. Jeder unserer Bereiche hat ja eine eigene Leitung: die Tagesförderstätte und das Wohnen in besonderer Wohnform auf unserem Hof in Belau sowie unsere ambulanten Dienste in Lüchow, also das Ambulant Betreute Wohnen und der Familienentlastende Dienst. Mit allen vier Bereichsleitungen arbeite ich schon seit Jahren sehr vertrauensvoll und fruchtbar zusammen.

Es ist für Sie also keine Herausforderung, die Aufgaben der Geschäftsführung und der Einrichtungsleitung miteinander zu vereinbaren?

Thunecke: Zumindest ganz sicher nicht in dem Maße, wie Sie es andeuten. Vielleicht werden wir im Leitungsteam einiges noch ein bisschen umstrukturieren müssen, um wirklich alles gut unter einen Hut zu kriegen. Aber wie gesagt: Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir das problemlos hinbekommen. Dagegen wäre es für unsere Gesellschafter und den Aufsichtsrat noch vor gar nicht langer Zeit undenkbar gewesen, die Geschäftsführung und Einrichtungsleitung in eine Hand zu legen. Dafür hatten wir viel zu viele Baustellen. Das ist erst jetzt möglich geworden, nachdem wir im Zusammenwirken mit Georg Nicolay, meinen Vorgänger in der Geschäftsführung, den Boden dafür bereitet haben.

Um das besser einordnen zu können, gehen wir jetzt mal sechs Jahre zurück. Sie haben am 1. Oktober 2017 bei der terra ihre damalige Tätigkeit als Heimleiter und Leitung der Tagesförderstätte aufgenommen.

Thunecke: So ist es.Und ich war dankbar, dass mir diese Aufgaben anvertraut worden sind. Andererseits gab es zu der Zeit zwischen der damaligen Geschäftsführerin und den Gesellschaftern bzw. dem Aufsichtsrat erhebliche Differenzen darüber, wie die terra geführt werden sollte. Und auch ich „tickte“ grundlegend anders als sie. Daher war ich doppelt froh, als der Vertrag mit der damaligen Geschäftsführerin 2018 beendet wurde und Georg Nicolay als neuer Geschäftsführer kam. Da sah die Welt schon ganz anders aus! Wir haben uns gut ergänzt und konnten viel zusammen entwickelt.

Wie kann man sich dabei Ihren Teil vorstellen?

Thunecke: Nun, zum Beispiel war mir von Anfang an wichtig gewesen, die Mitarbeitenden gut kennenzulernen. Deshalb bin ich viel rausgegangen aus meinem Büro, habe beobachtet, wie sie mit unseren Bewohner*innen und Nutzer*innen umgehen, und habe viel mit ihnen gesprochen. Ich wollte wissen: Welche Ideen und Vorstellungen haben die Mitarbeitenden von ihrer Arbeit, von der Zukunft der terra? Welche Strukturen behindern ihre Arbeit bei uns? Wo wünschen sie sich mehr Unterstützung? Welche Schulungen wären für sie hilfreich?

Und Ihre Eindrücke in dieser ersten Phase?

Thunecke: Mir war schnell klar: Das ist hier ein richtig gutes Team! Diesen Eindruck habe ich dann auch gleich auf der ersten Teambesprechung widergespiegelt. Dass ich wahrgenommen habe, mit wieviel Fürsorge und Empathie sie die Menschen bei der terra betreuen.

Das waren wahrscheinlich ganz neue Töne für`s Team.

Thunecke: Wahrscheinlich. Lob und Anerkennung für die Mitarbeitenden hatte es wohl lange nicht gegeben. Sie waren vorher offenbar auch nie nach ihren Einschätzungen gefragt worden und fühlten sich nun gesehen und gehört. Das war der Startschuss für viele Veränderungen, in die auch das Fachwissen und die Erfahrungen des Teams mit einbezogen wurden.

Zum Beispiel?

Thunecke: Na, zum Beispiel haben wir dann dem gesamten Wohnbereich eine neue Struktur gegeben. Die Wohngruppen waren ja vorher bunt durcheinandergewürfelt, nirgends fand sich ein System. „Junge Wilde“, wie wir sie bis heute liebevoll nennen, Bewohner*innen mittleren Alters, pflegebedürftige Personen, Menschen mit stark oder gering ausgeprägter Behinderung – alle waren in ihren Bedürfnissen sehr verschieden, lebten aber in den Gruppen dort, wo gerade ein Zimmer frei war. Sinnvolle pädagogische Arbeit und angemessene Förderung war bei so viel Unterschiedlichkeit kaum möglich. Also haben wir uns die Zusammensetzung der Bewohnerschaft genau angesehen und neue homogene Gruppen entwickelt sowie entsprechende pädagogische Konzepte dazu.

Aber vermutlich nicht über die Köpfe der Bewohner*innen hinweg!?

Thunecke: Keineswegs! Deren Wünsche und Bedürfnisse habe ich stets ernstgenommen – das war schon so, lange bevor das Bundesteilhabegesetz überhaupt in Sicht kam. Deshalb habe ich von Anfang an auch nicht nur viel mit den Mitarbeitenden gesprochen, sondern natürlich ebenso mit unseren Bewohner*innen und Nutzer*innen. Es war mir wichtig, auch und gerade sie gut kennenzulernen. Zu wissen, wie sie sich bei uns fühlen, was sie möchten und brauchen, welche Interessen sie haben, wohin es mit ihnen gehen soll. Das gilt für die Nutzer*innen in unserer Tagesförderstätte und noch mehr für die Menschen in unserem Wohnbereich. Schließlich ist die terra ihr Zuhause, in dem sie sich wohlfühlen sollen! Viele haben ja keine Angehörigen mehr, sondern die terra ist quasi ihre Familie.

Dann ist also auch die Umstrukturierung des Wohnbereichs rundum auf Zustimmung gestoßen.

Thunecke:Na, rundum wäre vielleicht zuviel gesagt, dafür habe ich ein zu individuelles Team – und Umstrukturierungen bedeuten auch immer viel Arbeit. Aber im Ergebnis haben alle davon profitiert: die Bewohner*innen, weil sie sich seitdem deutlich wohler fühlen, und gleichermaßen die Mitarbeitenden, weil sie sich nun viel gezielter und effektiver der jeweiligen Gruppe widmen können.

Was Sie erzählen, zeugt von erheblichem Fachwissen, viel Erfahrung und auch einer bestimmten inneren Haltung gegenüber Menschen. Wo und wie haben Sie das alles erworben?

Thunecke: Ach, da müsste ich weiter zurückgehen. (lacht) Wieviel Zeit haben Sie?

Genug Zeit und genug Neugier. Beginnen wir doch mal mit ihrer Kindheit. Gab es da schon erste Hinweise darauf, dass es später zwischen Ihnen und der terra mal so gut passen würde?

Thunecke: Zumindest habe ich das ländliche Leben und die Bedeutung der Dorfgemeinschaft schon mit der Muttermilch aufgesogen. Ich bin ja in einem kleinen Dorf in der Altmark aufgewachsen, sehr behütet auf einem ehemaligen Bauernhof mit drei Generationen. Das war dem Leben hier in Belau gar nicht unähnlich.

Ihr Abitur haben Sie dann in Salzwedel gemacht, bevor sie zur Armee kamen.

Thunecke: Zum Militärdienst gab es in der DDR keine Alternative – außer Gefängnis! Und für mich als Sohn von Genossenschaftsbauern, die noch dazu der Kirche angehörten, schon gar nicht, wenn ich studieren wollte. Ein Studium war ja in der DDR nicht jedem erlaubt, gerade wenn man nicht zur Arbeiterklasse gehörte. Ich musste mich für die Aussicht auf einen Studienplatz dann sogar für 36 Monate „freiwillig“ verpflichten. Diese Zeit des Militarismus, der Hetze auf den sogenannten westlichen Imperialismus, diese ganze Gehirnwäsche, das alles war unglaublich schwer auszuhalten. Fürchterlich!

Dann kam 1989 die Wende…

Thunecke: … und mit ihr zum Glück meine vorzeitige Entlassung nach 27 Monaten „Wehrdienst“. Ja, die Wende – ich war so froh und dankbar für den Sturz des Systems, für den Mauerfall ohne einen einzigen Schuss, das war sensationell.

Sie haben die Wiedervereinigung also begrüßt.

Thunecke: Die Wende ja – aber die Art der Wiedervereinigung? Sie hat bei mir doch eher gemischte Gefühle hervorgerufen. Ich denke, man hätte sich die Zeit nehmen sollen für neue Ideen in einem neuen Gesamtdeutschland. So aber ist daraus lediglich der Anschluss der DDR an die BRD geworden. Aus meiner Sicht wurde damit die historische Chance vertan, das Beste aus beiden Systemen zusammenzuführen.

Kehren wir zu Ihnen zurück. Sie haben nach der Wende dann tatsächlich studiert?

Thunecke: Ja, ich habe ab 1990 an der Humboldt Universität in Berlin Tiermedizin studiert. Das passte! Ein Jahr später passierte dann allerdings ein Verkehrsunfall, der mein ganzes Leben veränderte: Ich wurde auf einer Landstraße von einem Auto angefahren und sehr, sehr schwer verletzt. Auch am Schädel. Diese ersten 14 Tage danach auf der Intensivstation in der Uniklinik Magdeburg, kein Besuch, keine Ablenkung – nur überleben und nachdenken. Ich hab`s überlebt, dank des unglaublichen medizinischen Könnens und der wahnsinnigen Fürsorge in dieser Klinik. Das kann ich gar nicht hoch genug schätzen! In diesen zwei Wochen der Isolation, in denen ich am eigenen Leib Pflegebedürftigkeit erfuhr, habe ich auch viel nachgedacht über mein weiteres Leben. Und bin zu dem Schluss gekommen, dass ich statt Tiermedizin lieber etwas anderes studiere, das mich befähigt, später Menschen direkt helfen zu können. Ich wollte einfach ein Stück selbst erfahrene Fürsorge zurückgeben.

Das hieß also Studienfachwechsel.

Thunecke: Genau. Ich bin dann an der Humboldt geblieben und habe dort Rehabilitationspädagogik – also quasi Heilpädagogik – studiert. Schon nach wenigen Wochen wusste ich: Das ist es! 1996 hatte ich mein Diplom in der Tasche und begann anschließend beim Christlichen Jugenddorfwerk Deutschland in Salzwedel zu arbeiten. Das CJD betreut Erwachsene mit Beeinträchtigungen und hat mich damals zunächst als Springer sowohl im Wohnbereich als auch im Begleitenden Dienst der Werkstätten eingesetzt. Später erhielt ich dann dort die Möglichkeit, mit Mitteln der Agentur für Arbeit einen Förderlehrgang, der junge Erwachsene mit Lernschwierigkeiten zum Eintritt in den ersten Arbeitsmarkt befähigen sollte, aufzubauen und langjährig zu leiten.  

Diese Aufgabe hat Sie sicher erfüllt.

Thunecke: Ja, die Unterstützung der jungen Leute hat mir viel Freude bereitet. Aber nach zehn Jahren war damit Schluss, weil die Maßnahme nicht länger gefördert wurde. Ich habe dann noch weitere acht Jahre als „stinknormaler“ Gruppenleiter beim CJD gearbeitet, dort auch mit viel Erfolg unter anderem den Anbau von Bio-Gemüse organisiert oder eine Streuobstwiese bewirtschaftet, die Landwirtschaft lag mir ja im Blut. Aber in puncto Führungsposition, in der ich wirklich etwas hätte bewegen können, hat sich beim CJD nichts mehr getan. Alles schien betoniert, die Reise ging Richtung Zentralismus. Weil das jedoch nicht meine Sache war, habe ich mich nach etwas anderem umgeschaut. Dann kreuzte sich 2017 mein Weg mit der terra. Dieser Wechsel war für mich perfekt.

Der Rest ist Geschichte: erst Einrichtungsleiter bei der terra, jetzt auch die Geschäftsführung. Würden Sie sagen, das war und ist ein gutes Match?

Thunecke: Unbedingt, das ist für mich perfekt. Schon als Student habe ich von einem Bio-Bauernhof mit beeinträchtigten Erwachsenen geträumt. Jetzt bin ich genau dort, wo ich sein möchte, und kann genau das tun, was ich am liebsten tue. Es passt mit den Mitarbeitenden, der Bewohnerschaft und den Nutzer*innen. Meine langjährige Basisarbeit beim CJD kommt mir da sehr zugute. Es passt mit den Gesellschaftern, nach meinem Eindruck auch sehr gut mit dem neuen Gesellschafter, der agilio gGmbH aus Emden. Es passt aber auch mit Belau, mit der Dorfgemeinschaft und mit der Landwirtschaft. Im Grunde also alles wie für mich gemacht.

Dann geht die terra also mit Ihnen in die Zukunft. Welche künftigen Schwerpunkte sehen Sie?

Thunecke: Zum einen will ich mich weiter dafür einsetzen, dass die ursprünglichen Ziele der terra verfolgt werden und das bisher Erreichte erhalten bleibt: das Leben und Arbeiten von beeinträchtigten Menschen in einer offenen Einrichtung auf einem landwirtschaftlichen Bio-Betrieb – mit Respekt vor den Wünschen und Bedürfnissen der Bewohner*innen und Nutzer*innen, wie es die Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes verlangt, sowie mit starker Orientierung nach außen hin zum Gemeinwesen. Das sind für mich die Kernpunkte, die Grundidee.

Zugleich wird es für die terra aber wichtig bleiben, sich offen für Veränderungen zu halten. Die Entwicklung geht weiter, wie schon das Beispiel der Umstrukturierung unseres Wohnbereichs gezeigt hat. Für solche Prozesse muss eine grundsätzliche Bereitschaft bestehen.

Dann wird es in den nächsten Jahren auch darum gehen, die finanzielle Ausgestaltung unserer Arbeit sicherzustellen. Denn die Vergütungsvereinbarungen können nicht Schritt halten mit der Inflation, da muss hinten künftig mindestens eine Null rauskommen, damit wenigstens die Inflation ausgeglichen wird.

Vor allen Dingen geht es mir aber um die Menschen selbst. Ich möchte in der terra so wirken, dass sich unsere Mitarbeitenden mit ihrer Arbeit und der Einrichtung identifizieren können, dass sie sagen können „Ja, das hier ist meins“. Eine solche Einstellung, ein solches Betriebsklima spüren auch die von uns betreuten Menschen. So wie jene Bewohnerin, deren Mutter erzählte, dass die Tochter nach einem Besuch beim Abschied immer sagt: „Tschüß Mutti, ich fahre jetzt wieder nach Hause.“ Damit meint sie die terra.

Vielleicht noch ein letztes Wort zu Ihnen privat – wenn Sie mögen?

Thunecke: Natürlich, gern. Ich lebe mit meiner Frau auf einem Dorf etwa 15 Kilometer von Belau in einem alten Bauernhaus, das wir umgebaut haben. Möglichst jeden Tag komme ich mit dem Fahrrad zur terra. Diese Touren über Feld- und Waldwege tun mir gut, sie halten mich fit und machen den Kopf frei. Unsere beiden Kinder sind schon ausgezogen und studieren, aber wir haben weiterhin ein enges Verhältnis zu ihnen. Ansonsten kümmere ich mich zu Hause um unsere zwei Schafe, die als „Rasenmäher“ sehr tüchtig sind, oder um unseren Nutzgarten, der uns in diesem Jahr schon frische Erdbeeren, leckeren Spargel und Spinat beschert hat. Ich lasse aber auch gern mal die Seele baumeln und lese viel. Und zwar nicht digital, sondern „richtige“ Bücher aus Papier zum Anfassen und Umblättern. Das kann ein guter Roman sein oder auch was Humorvolles wie die Texte von Horst Evers. Aber bitte kein science-fiction! Also damit kann ich gar nichts anfangen – auch wenn ich immer nach vorne schaue.

Ein gutes Schlusswort. Mir bleibt, Ihnen für Ihr weiteres Wirken bei der terra viel Kraft und Erfolg sowie Ihnen persönlich ein weiterhin zufriedenes, gesundes Leben zu wünschen. Danke für das Gespräch, Herr Thunecke!


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