Bundesteilhabegesetz: Setzt die terra erfolgreich um

Durch die Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes hat sich bei der terra im Bereich Ambulant Betreutes Wohnen (ABW) einiges geändert und sinnvoll ausdifferenziert. Kristin Brunk leitet dieses Angebot der terra seit einigen Jahren. Die Pädagogin und Soziologin erläutert in einem ausführlichen Interview, worum es geht.

Frau Brunk, bitte sagen Sie uns vorab: Was regelt das Bundesteilhabegesetz eigentlich – und was soll es bewirken?

BRUNK:  Das Bundesteilhabegesetz – abgekürzt: BTHG – heißt offiziell „Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen“. Dieser Titel ist Programm: Menschen mit kognitiven, seelischen und/oder körperlichen Behinderungen sollen genau die Unterstützung erhalten, die sie individuell benötigen, um im Prinzip so leben zu können wie nicht beeinträchtigte Menschen. Jeder Mensch soll z.B. selbst entscheiden können, wie er wohnen, wo er arbeiten oder mit wem er seine Freizeit verbringen möchte. Das entspricht der UN-Behindertenrechtskonvention, die die Gleichberechtigung von Menschen mit und ohne Beeinträchtigung festschreibt.

Das Bundesteilhabegesetz geht ja auch mit einer veränderten Definition von Behinderung einher…

BRUNK:  … und folgt auch damit dem Verständnis von „Behinderung“, das die UN-Behindertenrechtskonvention zum Ausdruck bringt und das wir ausdrücklich teilen. Kurz gesagt bedeutet das im Grundsatz: Ein geistig, körperlich und/oder seelisch beeinträchtigter Mensch ist nicht behindert, sondern er wird behindert – und zwar an seiner gleichberechtigten Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Die Leistungen zur Teilhabe sollen dieses soziale Behindertwerden minimieren, ausgleichen oder gar nicht erst entstehen lassen. So haben wir es bei der terra übrigens schon immer gesehen. Durch das BTHG und die damit einhergehenden Änderungen für unsere Arbeit bekommt dieser Grundsatz aber noch einmal einen ganz anderen Stellenwert.

Dann könnte man also sagen: Das Bundesteilhabegesetz wurde zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention geschaffen?

BRUNK: Das ist richtig. Das BTHG regelt ganz konkret, auf welche Leistungen der Eingliederungshilfe ein beeinträchtigter Mensch Anspruch hat, damit seine Teilhabe umfänglich gesichert ist.

Auch die terra gehört mit ihren Angeboten, Einrichtungen und Diensten zur Eingliederungshilfe. Welche Veränderungen haben sich im Bereich Ambulant Betreutes Wohnen durch das Bundesteilhabegesetz ergeben?

BRUNK: Wir haben schon sehr frühzeitig damit begonnen, uns auf die Umsetzung des BTHG vorzubereiten. Das signalisiert uns z.B.: Schaut nicht auf die Wohnform, in der jemand lebt, und reduziert den Menschen auch nicht auf seine Beeinträchtigung – sondern schaut auf die gesamte Person, ihre Ziele, Fähigkeiten und Ressourcen. Mit diesem personenzentrierten Ansatz wird der individuelle Unterstützungsbedarf gut sichtbar. Die benötigten Assistenzleistungen sollen dann passgenau darauf abgestellt sein, dass jemand seine zuvor festgelegten persönlichen Ziele auch erreichen kann.

Wenn sich Ihre Assistenzleistungen wesentlich nach den Zielen der beeinträchtigten Menschen richten sollen, heißt das doch im Umkehrschluss: Zwei Menschen können zwar die gleiche Behinderung haben – aber trotzdem unterschiedliche Ziele verfolgen und daher verschiedenartige Unterstützung benötigen. Oder?

BRUNK: Genauso ist es! Unterschiedliche persönliche Ziele führen zu unterschiedlichen individuellen Bedarfen und entsprechend unterschiedlichen Assistenzleistungen. Selbst wenn manche Menschen in ähnlicher Weise beeinträchtigt sind, können sie sich doch sehr voneinander unterscheiden.  

Erläutern Sie das doch bitte an einem Beispiel.

BRUNK: Stellen Sie sich zwei Erwachsene mit kognitiver Beeinträchtigung vor. Beide brauchen Unterstützung in Fragen der Haushaltsführung – jedoch in verschiedener Weise.

Die erste Person will sich beispielsweise künftig selbst bekochen können und wünscht sich nun von uns, dass wir sie dazu befähigen. Wir werden sie also behutsam anleiten und mit ihr einüben, wie warme Mahlzeiten eigenständig vorbereitet und hergestellt werden. Diese Form der Unterstützung nennen wir qualifizierte Assistenz, weil sie nur von pädagogischen Fachkräften erbracht werden kann und darf. Sie richtet sich an Menschen mit geistiger Beeinträchtigung.

Anders die zweite Person: Sie möchte lediglich zweimal in der Woche auf ihrem Weg zum Supermarkt begleitet werden. Oder sie wünscht sich, dass wir die Bezahlung bzw. den Transport ihrer Einkäufe für sie übernehmen. Solche Leistungen zur teilweisen oder vollständigen Übernahme von Tätigkeiten, die Menschen wegen ihrer Einschränkung nicht selbst oder nicht allein ausführen können, nennen wir einfache Assistenz. Sie kann auch von empathischen, reflektierten Assistenzkräften ohne fachliche Qualifikation erbracht werden. Mit dieser Form der Unterstützung richten wir uns an Menschen mit geistiger, körperlicher beziehungsweise seelischer Beeinträchtigung oder einer Kombination davon. Auch wenn jemand von einer Behinderung bedroht ist, kann einfache Assistenz hilfreich sein.

Haben Sie diese beiden Formen der Assistenz nicht auch schon vor dem Bundesteilhabegesetz geleistet?

BRUNK: Natürlich war der jeweils persönliche Bedarf der Betroffenen für uns auch schon vorher handlungsleitend. Das führte unweigerlich zu unterschiedlichen Hilfeleistungen, die allesamt jedoch pauschaliert in gleicher Höhe vergütet wurden und immer von ausgebildetem Fachpersonal erbracht werden mussten. Diesen Vorschriften lag die Annahme zugrunde, dass jeder Mensch mit Behinderung ungefähr die gleichen Bedarfe haben würde.

Diese Annahme stimmt jedoch nicht, das hat das BTHG nochmal verdeutlich. Vielmehr sind Menschen mit Beeinträchtigung so vielfältig in ihren Zielen, Wünschen und Möglichkeiten wie Menschen ohne Beeinträchtigung auch.

Entsprechend unterscheiden wir bei der terra in der neuen Leistungsvereinbarung nun seit Sommer 2021 zwischen der einfachen und qualifizierten Assistenz. Das führt nicht nur zu unterschiedlichen Vergütungssätzen, sondern hat einen weiteren entscheidenden Vorteil: Auf diese Weise können wir jetzt noch viel personenbezogener arbeiten und den betreffenden Menschen noch passgenauer fördern. Denn wir erhalten nun sehr genaue individuelle und damit unterschiedliche Ziele als Auftrag für unsere Arbeit mit den betroffenen Menschen. Nach unserer Erfahrung im letzten Dreivierteljahr ist dadurch auch die beidseitige Zufriedenheit gestiegen – also sowohl bei den Empfänger*innen unserer Assistenzleistungen als auch bei uns als Erbringer*innen.  

Kann jemand, der Unterstützung von Ihnen erhält, entsprechend seinen Zielen auch beide Formen der Assistenz miteinander mischen?

BRUNK: Natürlich, das ist überhaupt kein Problem und oft sogar sinnvoll. Je nach konkreten persönlichen Zielen könnten zum Beispiel in der Woche vier Stunden qualifizierte Assistenz und drei Stunden einfache Assistenz anfallen. Letztlich hängen Art und Umfang immer davon ab, welcher persönliche Bedarf zuvor ermittelt wurde.

„Ermitteln“ klingt ja fast detektivisch… Ein Mensch mit Beeinträchtigung kann also nicht einfach sagen, ich will dies oder das – und dann läuft die entsprechende Unterstützung einfach an?

BRUNK (lacht): Na ja, ganz so einfach ist das in Deutschland nicht. Tatsächlich muss der jeweils zuständige (Kosten)Träger der Eingliederungshilfe den individuellen Bedarf einer leistungsberechtigten Person feststellen – und zwar mit ihrer Beteiligung und vor allem unter Berücksichtigung ihrer Wünsche und Ziele. Dieses Feststellungsverfahren erfolgt mit einem einheitlichen Instrument, das „B.E.Ni“ genannt wird: BedarfsErmittlung Niedersachsen für Menschen mit Behinderung. In diesem Rahmen wird bestimmt, für welche Tätigkeiten eine Assistenz bewilligt wird. Daraus lässt sich dann auch die jeweilige Form der Assistenzleistungen ableiten. Sie sind sämtlich darauf gerichtet, die selbstbestimmte und eigenständige Bewältigung des Alltags zu fördern und die soziale Teilhabe zu sichern. Sowohl die einfache als auch die qualifizierte Assistenz kann also bei fast allen Fragen von Wohnen, Haushalt und Alltag, aber auch bei der Gestaltung sozialer Beziehungen, der Freizeit oder der persönlichen Lebensplanung eine wichtige Rolle spielen.

Ob jemand Assistenzleistungen erhält, hängt also immer von der staatlichen Eingliederungshilfe ab?

BRUNK: Wenn Ansprüche bestehen, der Bedarf ermittelt ist und Assistenzleistungen von der staatlichen Eingliederungshilfe bewilligt sind, so trägt sie dafür auch die Kosten. Das geschieht entweder in Form von Sachleistungen, die einem Menschen mit Beeinträchtigung zur Verfügung gestellt werden – oder in Form eines sogenannten Persönlichen Budgets, das die betreffende Person für gewählte Assistenzleistungen selbst bewirtschaftet. Aber natürlich kann ein Mensch mit Beeinträchtigung auch ohne Beteiligung der staatlichen Eingliederungshilfe unsere Leistungen buchen. Nur muss er sie dann auch selbst bezahlen können.


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